Hallo Olli, hallo blow_up,
habe Eure Beiträge am Montag gelesen und ringe seitdem mit einer Antwort. Fällt mir sehr schwer, weil das Thema so viele Facetten hat.
Also erst mal: Ja, für mich als ADHSler halte ich Kontrolle für einen Rettungsring. Schließlich handelt es sich dabei um eine Implus
kontrollstörung, was für den Betroffenen bedeutet dass er seinen Impulsen stärker ausgeliefert ist als neuronormale Menschen. Wobei ich sagen würde, dass es drei Auswege gibt, aus dem ständigen Gewusel im Kopf einen einigermaßen festen geistigen Zustand zu machen:
1) Hyperfokus. Was viele nicht wissen: ADHS bedeutet nicht nur Ablenkbarkeit; sondern auch die Fähigkeit zu extremer Konzentration, wenn einen etwas wirklich interessiert oder wichtig ist. Drei Tage vor der Prüfung anfangen zu lernen, die Steuererklärung am Tag vor dem Abgabetermin beginnen... führt dazu, dass man die Dinge in Rekordzeit schafft. Danach aber auch entsprechend erschöpft ist. Habe ich jahrelang so praktiziert. Und das macht auch Trading vordergründig attraktiv: Gerade, wenn große Summen auf dem Spiel stehen, bindet das auf und ab der Märkte die volle Aufmerksamkeit.
2) Kontrolle. Danach hat Olli gefragt. ADHSler tun sich schwer mit Struktur und Ordnung. Da hilft Kontrolle: Für jede Kleinigkeit eine Checkliste, Apps die einen erinnern was man tun sollte (nach vielen Experimenten kann ich HabitNow uneingeschränkt empfehlen), penible Ordnung in Bad, Küche und Schreibtisch bis an den Rand den Zwanghaften... helfen, die Ablenkungen in Schach zu halten. Die Kontrolle zu behalten ist nicht einfach, allzu oft wird auch sie über Bord geworfen. Aber sie ist der Strohhalm, der sich bietet, wenn man nicht allein auf den anstrengenden Hyperfokus setzen will.
3) Der Sache auf den Grund gehen. Du Olli hast an anderer Stelle geschrieben: "Da ist es schon sinnvoller, wenn Du Dich um das eigentliche Problem kümmerst, weswegen Du Glücksspiel betreibst." Ich habe keine Ambitionen, Psychologie zu studieren - beschäftige mich aber mit ADHS, seitdem ich vor gut vier Jahren meine Diagnose erhalten habe. Aktuell lese dazu ein Buch von Gabor Maté: "Scattered Minds" (gibt es auch auf deutsch: "Unruhe im Kopf"). Er hat übrigens auch ein Buch über Sucht geschrieben ("In the World of Hungry Ghosts"), das ich letztes Jahr bereits gelesen habe. Große Gemeinsamkeit zwischen Sucht und ADHS: Beides hat mit schmerzhaften/ traumatischen Erfahrungen in der Kindheit zu tun und sowohl Hyperaktivität als auch Sucht sind Versuche, den tief sitzenden Schmerz nicht zu spüren ("Every child with ADD has been wounded by a disruption in the relationship between the caregiver and the sensitive infant. All the behaviors and mental patterns of attention deficit disorder are external signs of the wound, or inefficient defenses against feeling the pain of it.") ADHSler sind damit logischerweise anfälliger für Suchverhalten als andere Menschen.
Wie ist das bei mir ganz persönlich? Da ist Schmerz, immer gleich um die Ecke. Ich kann ihm entgehen, indem ich dem nächstbesten Impuls nachgebe: E-Mails abrufen, Kurse checken, Instagram... Insofern bin ich ihm vor allem ausgesetzt, wenn das keine Option ist; d.h. beim Autofahren oder in der Kassenschlange, wenn ich Einkäufe in der Hand habe und deshalb nicht das Handy in die Hand nehmen kann. Meistens hat der Schmerz eine Gestalt, es scheint als läge sein Grund im Konflikt mit einem anderen Menschen, irgendeiner Dummheit die ich gemacht habe, Angst vor irgendetwas... aber mittlerweile bin ich überzeugt, dass das zweiter Ordnung ist. Es ist einfach Schmerz und mein Verstand gibt ihm einen Namen, einen Anlass.
Was ist wirklich dessen Ursache? Sowohl eine einjährige Psychotherapie also auch ein bis zwei Dutzend Hypnotherapie-Sitzungen haben Aspekte ans Licht befördert, aber nicht
die große Erkenntnis.
Ich bin in psychiatrischer Behandlung und nehme Medikinet (relativ gering dosiert, 30 mg pro Tag). Ich meditiere seit 2006, so gut das mit der Symptomatik eben geht. Das hilft, den Alltag besser zu bewältigen - genau wie Kontrolle. Aber am Chaos im Kopf selbst hat sich eher wenig geändert.
Und jetzt noch der Bogen zum Trading. Wenn man es so framen möchte: ich stecke bis über beide Ohren in Sucht - in Sucht nach Ablenkung. Habe oben ein paar Möglichkeiten dafür genannt, natürlich gibt es unendlich viele mehr. Und wenn nichts davon verfügbar ist, bleibt immer noch "pass out" - Augen zu und Wegdösen, Selbstbetäubung. Und ja: Durch die Therapien, die Medikamente und das Meditieren ist die Dosis, die ich von all dem brauche, geringer geworden.
Trading hat eine Sonderrolle. Erstens ist es besonders attraktiv als relativ einfacher Weg, in den Hyperfokus zu kommen. Und damit meine ich gebanntes auf die Kurse starren, nicht per Sparplan ETF kaufen. Zweitens führt impulsives Verhalten dort nicht nur dazu, dass man seine Zeit verschwendet. Sondern Geld verliert - in potenziell riesigem Ausmaß. Priorität war und ist für mich, dass diese Verluste ein Ende haben. Wenn ich schon Impulse nicht gut unter Kontrolle habe, dann wenigstens die schädlichsten.
Natürlich bin ich nicht gesund, die Kontrolle immer wieder zu verlieren ist mein ermüdender Alltag. Aber es wird besser - durch effektivere Kontrolle, aber auch durch mehr Einsicht. Durch die Fähigkeit, immer ein bisschen länger bei dem Schmerz zu verweilen und mich nicht der erstbesten Ablenkung hinzugeben. Natürlich sehne ich mich nach radikaleren Veränderungen in meinem Leben - hatte aber bis jetzt aber nur Erfolg mit kleinen Schritten.
Herzliche Grüße
Die Frage die ich mir stelle und, wenn ich ehrlich zu mir bin, für meinen Teil bis heute nicht abschließend beantworten kann: wie genau definiert sich die Grenze zwischen Investieren und Glückspiel? Meine Meinung hier und jetzt und ggf auch konträr zu Statements aus früheren Beiträgen: das ist kein weiter Burggraben. Das ist auch keine hohe Mauer. Vielleicht ist es eine, so fragil wie manch andere "Brandmauer" heutzutage?!
P.S.: Für mich wäre Investment, wenn Plan/ Risikobewusstsein/ Kontrolle vorhanden sind. Aktienindizes korrigieren öfter mal 20-60%, nach Blasen wie 2000 können es auch mal 80% sein. Das ist dem Investor bewusst, wenn er einen ETF kauft und er hat einen Plan: Sitze ich so etwas aus oder gehe ich bei einem bestimmten Verlust raus? Selbiges bei kurzfristigen Anlagen: Mit festem Stopp Loss und maximaler Verlustgrenze pro Tag/ Woche/ Monat geht man kalkulierte Risiken ein und das Ganze bleibt in den vordefinierten Bahnen. Und es gibt eine Struktur, die man sukzessive optimieren kann. Eine Glückskomponente bleibt auch dann noch weil man nicht weiß, in welche Richtung die Kurse laufen - aber hat einen Plan für die verschiedenen Dinge, die passieren können.
Zocken basiert meistens auf einer "Wird schon gut gehen"-Haltung. Der Zocker folgt beim Einstieg seiner "Intuition" und dann hofft und bangt er. Nimmt kleine Gewinne mit um ein Erfolgserlebnis zu haben und lässt Verluste laufen um den Schmerz eines Minusgeschäfts zu vermeiden. Ober - noch schlimmer - "verbilligt" durch Nachkaufen (was fälschlicherweise als Erfolg gewertet wird im Sinne von "Ich habe ein Schnäppchen gemacht" - fatale Logik). Das alles folgt keinem Plan, sondern Impulsen, Reflexen und Emotionen, Gier und Angst. Das geht früher oder später schief. Und dann macht der Zocker mit Revenge Trades und Chasing alles noch schlimmer.
Finde schon, dass relativ klar ist, in welcher Sphäre sich eine Transaktion bewegt. Aber die meisten Menschen bewegen sich nicht klar auf Seite, investieren heute und zocken morgen wieder... das macht die Unterscheidung schwierig.