In den Sportwettenverfahren hat das LG Erfurt (8. Zivilkammer) in dem Hinweisbeschluss vom 29.04.2024 – 8 O 1125/23 die positive BGH-Entscheidung kritisiert und plant, dem EuGH dazu Fragen vorzulegen.
Ich gebe hier nachfolgend das Dokument wieder.
Tenor:
Es ist beabsichtigt, das vorliegende Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV sämtliche entscheidungserheblichen Fragen zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechtes, insbesondere der in Art. 56 AEUV verankerten Dienstleistungsfreiheit, aber auch der im Glücksspielrecht einschlägigen Grundrechte und Grundsätze der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, vorzulegen.
Gründe:
1 Die zivilrechtlichen Rückzahlungsklagen im Glücksspielbereich dürften sich zu einem weiteren Massenphänomen entwickeln. Es erscheint sinnvoll und geboten, sämtliche klärungsbedürftigen unionsrechtlichen Fragestellungen und Problemata – zu Online-Sportwetten im vorliegenden Fall wie zum verwandten Online-Casino in zahlreichen anderen anhängigen Fällen – vor den Europäischen Gerichtshof zu bringen, dem hier das letzte Wort zukommt.
2 Es ist nicht nachvollziehbar, warum der Bundesgerichtshof ein bei ihm anhängiges Verfahren zum Online-Casino mit Blick auf eine Vorlage aus Malta aussetzt, nicht jedoch seinerseits den EuGH zur Sportwettenthematik anruft. Jedwede Begründung des Aussetzungsbeschlusses fehlt. Es erstaunt, dass in Deutschland mit teilweise hohem Aufwand dargelegt wird, warum man nicht vorlege oder vorlegen müsse, anstatt sich selbst an den Luxemburger Gerichtshof zu wenden. Es erstaunt, warum man auf die Antworten des Gerichtshofes zu einer Vorlage eines maltesischen Gerichts wartet, welche die deutsche Rechtslage auf den Prüfstand stellt und deren Zulässigkeit problematisch sein könnte. Die Berufung auf einen „acte clair“ oder einen „acte éclairé“ überzeugt jedenfalls nicht. Bekanntlich werden Vorlagen nicht unzulässig, selbst wenn im Einzelfall ein solcher „acte“ vorliegen sollte. Der Gerichtshof wird gleichwohl dem vorlegenden Gericht – im Rahmen des Kooperationsverhältnisses zwischen Gerichtshof und nationalen Gerichten – jedwede Hilfestellung geben, um den Ausgangsrechtsstreit unionsrechtskonform zu lösen. Im Übrigen erscheint zweifelhaft, dass die Voraussetzungen tatsächlich vorliegen, um von einer Vorlage absehen zu können. Der Gerichtshof hat die Anforderungen an einen „acte clair“ bekanntlich vor kurzem zusammengefasst und akzentuiert. Dem genügt soweit ersichtlich kaum eine deutsche Entscheidung.
3 Es kann hier nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Bundesgerichtshof mittlerweile in zahlreichen Fällen zu Unrecht einen „acte clair“ oder einen „acte éclairé“ angenommen hat, was nur durch Vorlagen von Instanzgerichten korrigiert werden konnte (s. die Urteile des Europäischen Gerichtshofes vom 26.03.2020, C-66/19, vom 09.07.2020, C-698/18, vom 22.04.2021, C-485/18, vom 09.09.2021, C-33/20, und vom 09.09.2021, C-33/20). Besonders deutlich trat dies zum „Abgasskandal“ zu Tage.
4 Gerade im hochkomplexen Glücksspielrecht bedarf es der Hilfestellung und Klärung durch den Europäischen Gerichtshof. Hier überlagern sich Unionsrecht und das Recht von 27 Mitgliedstaaten. Diese Querschnittsmaterie berührt Öffentliches Recht, Strafrecht, und seit kurzem auch verstärkt das Zivilrecht. Die Komplexität hat durch den Hinweisbeschluss des Bundesgerichtshofes vom 22. März 2024 noch zugenommen, dessen Prämissen und Folgerungen auf den unionsrechtlichen Prüfstand gestellt werden.
5 Jedes nationale Gericht ist Unionsgericht. Jeder Richter und jede Richterin eines Mitgliedstaates sind verpflichtet, dem Unionsrecht und den unional verfolgten Zielen des Gemeinwohls bestmögliche Wirksamkeit zu verleihen. Dies gilt insbesondere für die Grundrechte und Grundsätze der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die gemäß Art. 51 Abs. 1 S. 2 der Charta ausdrücklich zu fördern sind.
6 Vor diesem Hintergrund sollen an den Gerichtshof der Europäischen Union – thematisch geordnet und bei allem Bemühen um eine Reduktion von Komplexität – zumindest folgende Vorlagefragen (hier mit Kurzbegründung) gerichtet werden:
1. Zivilrechtliche Sanktion wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot aufgrund fehlender nationaler Veranstaltererlaubnis für Onlinesportwetten
Kann unter Ausgangsbedingungen wie in dem vorliegenden Verfahren die Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit des Art. 56 AEUV durch eine zivilrechtliche Sanktion der Rückforderung von Einsätzen aus Glücksspielen wie Sportwetten wegen Unwirksamkeit der entsprechenden Verträge aufgrund eines Verbotes dieser Wetten (noch) mit zwingenden Gründen des Gemeinwohls unter Beachtung des Grundsatzes der Rechtssicherheit unionsrechtlich gerechtfertigt werden, wenn
- das zugrundeliegende Verbotsgesetz (hier: der Erlaubnisvorbehalt des § 4 Abs. 1 GlüStV 2012) nach dem Recht des Mitgliedstaates Glücksspiele verbietet, für welche die erforderlichen Erlaubnisse nicht vorliegen,
- Sportwetten nach dem Recht dieses Mitgliedstaates von Gesetzes wegen Glücksspiele darstellen (hier: § 3 Abs. 1 Satz 1 GlüStV 2012),
- die für sie zu erteilenden Erlaubnisse (Konzessionen) nicht erlangt werden konnten, weil die zuständigen Verwaltungsgerichte ihre Ausgabe untersagt hatten,
- dies daran lag, dass das Erlaubnisverfahren für Sportwettveranstalter nach Beurteilung dieser Gerichte nicht transparent und diskriminierungsfrei auf der Grundlage im Voraus bekannter Kriterien durchgeführt wurde, so wie die Rechtsprechung des Gerichtshofes dies für einen wirksamen Erlaubnisvorbehalt verlangt (Carmen Media, Rn. 87; Sporting Exchange, Rn. 50) und
- es sich anders als im Fall Ince auch um Onlinesportwetten handelt,
- zu deren Angebot die Konzessionen aber ebenfalls berechtigt hätten (§ 10a Abs. 4 GlüStV 2012)?
Begründung:
Der Gerichtshof hat im Fall Ince die Unionsrechtswidrigkeit von Sanktionen wegen des Fehlens deutscher Erlaubnisse zum Angebot von Sportwetten für den Konzessionszeitraum bestätigt. Die Vorlage bezog sich insoweit auf eine Vorlage wegen einer strafrechtlichen Sanktion wegen des Angebotes von Sportwetten in Wettbüros. In dem streitgegenständlichen Verfahren geht es anstelle der strafrechtlichen Sanktion um die zivilrechtliche Sanktion der Rückforderung von Einsätzen wegen des Verbotes von Sportwetten gegenüber einem Sportwettenveranstalter ohne deutsche Konzession, der diese Sportwetten im Internet angeboten hat.
2. Zivilrechtliche Sanktion bei Onlinesportwetten wegen Verstoßes gegen Anforderungen an den Inhalt der nationalen Konzession
Ändert sich etwas für die Rechtfertigung der Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit des Art. 56 AEUV und im Lichte des gemeinschaftsrechtlichen Grundsatzes der Rechtssicherheit, wenn
an Stelle einer als unionsrechtswidrig unanwendbaren Beschränkung (Erlaubnisvorbehalt und Internetverbot) (s. oben 1.)
eine zivilrechtliche Sanktion der Unwirksamkeit des grenzüberschreitenden Dienstleistungsvertrages verhängt wird,
weil im streitgegenständlichen Zeitraum gesetzliche Anforderungen nicht eingehalten wurden,
die
in Regelungen enthalten sind, die sich an die Behörde richten (z.B. § 4 Abs. 5 GlüStV 2012),
von dieser Behörde in der Erlaubnis gegenüber dem Veranstalter festgelegt werden und nach Maßgabe dessen für diesen gelten,
nach Inhalt und Umfang in der Erlaubnis wie beim seinerzeit geltenden Einsatzlimit (§ 4 Abs. 5 Nr.2 GlüStV 2012) konkretisiert werden müssen?
Begründung:
Anstatt auf die fehlende Konzession abzustellen, kommt in Betracht, die Illegalität und die darauf gestützte zivilrechtliche Kondiktion darauf zu stützen, dass das Angebot im konkreten Zeitraum nicht erlaubnisfähig gewesen sei, weil dem Spielerschutz geltende Anforderungen an die Erlaubniserteilung nicht eingehalten seien. So bestimmt der Gesetzgeber unter anderem als Grundsatz ein Limit von 1000 € monatlichem Einsatz, von dem zur Erreichung der Ziele des GlüStV 2012 allerdings abgewichen werden durfte (§ 10a Abs. 4 Satz 2 i.V.m. § 4 Abs. 5 Nr. 2 GlüStV 2012) und später auch abgewichen wurde. Ebenso bestimmte er ein Verlinkungsverbot auf unerlaubtes Glücksspiel (§ 10a Abs. 4 Satz 2 i.V.m. § 4 Abs. 5 Nr. 2 GlüStV 2012).
Ein erheblicher Teil der Gerichte stellt hierauf ab (s. vor allem BGH, Beschluss vom 22.3.2024 – I ZR 88 /23). Nach dieser Rechtsauffassung käme es nicht darauf an, ob das Spielen des Klägers hierauf beruht. Dahinter steht die Überlegung, dass die Veranstalter ansonsten durch die unionsrechtliche Unanwendbarkeit von Erlaubnisvorbehalt und Internetverbot bessergestellt würden als im Falle der Konzessionserteilung.
Dem gegenüber steht der Einwand, dass eine Schlechterstellung der Dienstleistungserbringer droht. Denn im Falle der Konzessionserteilung hätte die Missachtung einer entsprechenden Erlaubnisauflage nicht zur zivilrechtlichen Unwirksamkeit des grenzüberschreitenden Dienstleistungsvertrages geführt. Vielmehr wären Verstöße im Einzelfall dann Gegenstand der behördlichen Glücksspielaufsicht.
Von daher stellt sich die Frage, ob der Dienstleistungserbringer im Falle der Unanwendbarkeit von Erlaubnisvorbehalt und Internetverbot durch eine Rechtsanwendung, die sich auf das gesetzgeberische Gemeinwohlziel des Spielerschutzes beruft, schlechter gestellt werden darf als er stünde, wenn das Konzessionsverfahren unionsrechtskonform durchgeführt worden wäre und er eine Konzession erhalten hätte.
3. Rechtsmissbrauch
Ist es mit dem unionsrechtlichen Verbot des Rechtsmissbrauchs und den Rechtfertigungsanforderungen an Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit vereinbar, dem Empfänger einer grenzüberschreitenden Dienstleistung (hier: Sportwetten) nach deren Inanspruchnahme einen Kondiktionsanspruch zuzugestehen, nämlich das Entgelt für die grenzüberschreitende Dienstleistungsfreiheitserbringung (Einsatz) zurückzufordern (hier: die Sportwette als Freizeitvergnügen und Glücksspiel), um damit
am Verbrauchergerichtsstandort der Art. 17, 18 EuGVVO eine zivilrechtliche Sanktion der Vertragsunwirksamkeit (§ 134 BGB) wegen Verletzung eines mitgliedstaatlichen Verbotes durchzusetzen,
die als zivilrechtliche Sanktion unionsrechtswidrige verwaltungs- und strafrechtliche Sanktionen ersetzt,
allein den Erbringer einer Dienstleistung träfe, der im Mitgliedstaat seiner Niederlassung lizenziert ist (hier: Malta) und den Vorkehrungen seines Mitgliedstaates zum Schutz des Dienstleistungsempfängers unterliegt,
obwohl das zugrundeliegende strafrechtliche Verbot des unerlaubten Glücksspiels für beide Vertragsparteien gilt und beide hiergegen verstoßen haben,
während der Empfänger je nach Ausgang der Wette die Wahl hätte, bei Verlusten eine Rückabwicklung zu verlangen, sich bei Gewinnen aber auf die Gültigkeit der Wettverträge zu berufen?
Hilfsweise zu 1 bis 3
Ist es mit den Rechtfertigungsanforderungen an Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit vereinbar,
die zivilrechtliche Sanktion der Unwirksamkeit anzuwenden, wenn die konkret geltend gemachte Verletzung einer Regelung des Spielerschutzes nicht kausal für den zu erstattenden Verlust war (Verlinkungsverbot),
und / oder
auf das Angebot insgesamt zu erstrecken, auch wenn der Rechtsverstoß nur einzelne Wetten betrifft?
Begründung:
Für den Fall, dass keine der Fragen 1 bis 3 zur Feststellung der Unionsrechtswidrigkeit der zivilrechtlichen Sanktion der Kondiktion führt, stellt sich die Frage nach der Reichweite des Kondiktionsanspruchs. Denn die Rechtsfolge des Verbotes kann das Angebot insgesamt erfassen oder nur einzelne Wettverträge, die konkret auf einer Verletzung der dem Schutz des Verbrauchers dienenden Regelungen beruhen.
7 Dieser Nukleus einer EuGH-Vorlage wird noch eingehend ergänzt werden, etwa um den Hintergrund und die Genese des zivilrechtlichen Glücksspielrechts, die Details des Ausgangsrechtsstreits und die einschlägigen Normen. Zudem erscheint erwägenswert, dem Europäischen Gerichtshof auch die grundrechtliche Dimension des Glücksspielrechts zu überantworten.
8 Eine EuGH-Vorlage ist im vorliegenden Verfahren bereits mit Verfügung vom 26. Januar 2024 angekündigt worden. Seither hatten die Parteien Gelegenheit, zu einem solchen Vorgehen Stellung zu nehmen. Zur bestmöglichen Wahrung rechtlichen Gehörs haben beide Seiten erneut Gelegenheit, bis Ende Mai 2024 zu der beabsichtigten EuGH-Vorlage Stellung zu nehmen.