Hallo meine Liebe!
Herzlich willkommen!
Gestern abend hatte ich eigentlich schon mal angesetzt Dir zu schreiben, doch das hatte mir nicht gefallen. Es wäre Dir nicht wirklich eine Hilfe gewesen. Ich übersah, dass Du Dich gerade selbst ziemlich fertig machst.
Nun, fangen wir mal mit der Zielgruppe an ... männlich, jung, Migrationshintergrund ... hmmm ... also ich bin zwar männlich, nicht mehr so wirklich jung mit 54 und meine Urgroßeltern (oder noch weiter zurück) müssen aus einem französischsprachigen Raum kommen. Zählt das auch als Migrationshintergrund?
Ich habe mein Fachabi damals mit 2,1 abgeschlossen. Eine meiner Schwestern wundert sich immer, dass ich ein weites Spektrum an Allgemeinwissen habe. Also konnte ich mich, als ich in die Sucht rutschte, auch nicht als dumm oder ungebildet betiteln.
Damals war ich froh, dass ich irgend eine Lehrstelle bekam. Die Lehrzeit dauerte mit mittlerer Reife nur 2,5 Jahre - ein Indiz für eine spätere nicht so üppige Bezahlung. Doch mein Beruf ist anforderungsreicher geworden und ich bin als Unstudierter in der Gehaltsgruppe eines Studierten gekommen.
Wieso also bin ich spielsüchtig geworden?
Ich hatte sehr wohl Defizite, nur waren die mir gar nicht bewusst. Diese Defizite waren Erfahrungslücken, die ich in meinem sozialen Umfeld nicht ausfüllen konnte, da auch diese Defizite vorhanden waren. Wie geht man mit einer Situation um, wenn man gar nicht weiss, wie man am Besten damit umzugehen hat? Man schnappt sich etwas, was man kennt und wo man seine Erfahrungen scheinbar auch noch ausbauen kann. Meine Sucht übte für mich eine Funktion aus!
Blödes Beispiel: Wenn der Tank im Auto leer ist, dass weiss eigentlich jeder, dass man frühzeitig zur Tankstelle fahren soll und dort Sprit nachfüllen muss in den Tank. Wer das nicht weiss, der hat vielleicht jemanden ein Auto anschieben sehen und kommt so auf die Idee, künftig auf diese Art und Weise von A nach B zu kommen!
Die Frage wurde Dir schon gestellt: Wieso ist Dein Anspruchdenken so auf Geld fixiert? Wieso denkst Du, dass die Höhe Deines Ersparten für Dein Alter nicht genug ist?
Ich habe es satt, Kurse zu checken, ausgeliefert zu sein und zu Hoffen und zu Bangen, für Nichts und wieder Nichts! Ich will wieder leben, glücklich sein, von daher investiere ich nur noch passiv in ETFs.
Im ersten Teil merkst Du selbst, wie wir auch abseits des Spielens vom Spiel emotional beherrscht werden. Wie sehr wir allem, was mit Glücksspiel zu tun hat, immer mehr Raum in unserem Denken und Handeln - dem Leben, einräumen.
Und obwohl Dir das alles so stinkt, möchtest Du doch weiter zocken.
Was würdest Du sagen, wenn Dir ein Alkoholiger sagt: Ich trinke jetzt keinen Schnaps mehr, nur noch Bier!
Es ist doch immer noch Alkohol ... oder? Du betreibst immer noch Glücksspiel!
Was denkst und fühlst Du gerade jetzt, wo Du meine Worte liest?
Es ging harmlos mit 200 Euro los
Das tut es immer ... harmlos anfangen ... Ich habe damals auch erst mal nur 10 oder 20 DM in einen Automaten geworfen.
Das Problem bei einer Sucht: Man fängt bei einem Punkt Null an. Dann kommt eine individuell lange Gewöhnungsphase.
Hier wir der Einsatz an Zeit und Geld immer weiter gesteigert. Es werden Versuche unternommen Verluste zu minimieren, doch die Frequenz steigt weiter an. Irgendwann kommt der Punkt, wo die ersten Probleme auftauchen. Hier sehe ich Dich gerade. Doch das Ende der Fahnenstange ist noch längst nicht erreicht. Deine Angst irgendwann einmal die Miete nicht zahlen zu können ist begründet! Eine Sucht ist IMMER progressiv. Von daher war es absolut richtig von Dir, Dir Hilfe zu suchen. Mache Dir keine Vorwürfe, wieso Du das nicht früher gemacht hast ... Du hast es nämlich auf gar keinen Fall später gemacht.
Du ersparst Dir, wenn Du den Schritt mit der Hilfesuche nun weiter gehst, das restliche Ersparte auch noch zu verlieren, Schulden anzuhäufen, den Partner weiter anzulügen und Dein Selbstbild tiefer und tiefer in den Dreck zu drücken.
Das alles kannst Du Dir ersparen, wenn Du den Weg in die Suchthilfe vor Ort suchst. Dort kannst Du Deinem Defitzit auf den Grund gehen und lernen auf gesunde Weise damit umzugehen.
Zum Schluss möchte ich noch auf einen Satz von Hannibal eingehen, der so etwas von nass ist, dass ich leider gar nicht anders kann. Es hat etwas mit dem Verstoß gegen meine Werte zu tun. Hannibal möchte ich aber auch nicht zu nahe treten.
Du bist Deinem Freund keine Rechenschaft schuldig, weil Du Dein eigenes Geld verdienst und das Risiko selber trägst.
Ich sage genau das Gegenteil: Du bist Deinem Freund Rechenschaft schuldig! Denn ihr lebt in einer Lebensgemeinschaft, die auf Liebe, Vertrauen und Ehrlichkeit aufgebaut ist.
Glüecksspielsucht ist eine Krankheit - eine anerkannte. Ein Symptom ist die Scham sie zuzugeben. Auch Du hast davon gesprochen dumm gehandelt zu haben. Doch die Glücksspielsucht hat nichts mit mangelnder oder übermäßiger Intelligenz zu tun. Sie ist eine Störung der Gefühlsregulation. Alles, was Du getan hast, wurde dadurch beeinflusst. Das Craven, das Verlangen der Sucht nachzugeben, ist mit Worten kaum zu beschreiben.
Dein Freund, wenn Du ihm die volle Wahrheit sagst, wird Antworten von Dir wollen. Doch es ist vollkommen OK zuzugeben, dass Du keine hast. Wichtig ist doch nur, dass Du Dich auf den Weg machst diese Antworten zu finden! Das kannst Du ihm sagen, das kannst Du ihm auch versprechen. Oft wird einem ein Versprechen von "nie mehr" abgerungen und in dem Moment erscheint die Absicht dies einzuhalten übermächtig. Doch eigentlich ist das eine Lüge. Niemand kann in die Zukunft schauen und selbst Prognosen werden schwammiger, je größer die Zeitspanne wird.
Daher half mir immer das "nur für heute" ... das kann ich handeln, darauf habe ich am meisten Einfluss.
Daher lautet mein Mantra: Ich erlaube mir nur für heute spielfrei bleiben zu dürfen!
Es klingt ein wenig aufgebauscht, doch jedes einzelne Wort hat seine Bedeutung und Wichtigkeit!
Noch einmal kurz zurück zu meiner Formulierung, dass das Zitat da oben nass ist ...
Die Behauptung schützt die Suchtausübung. Wenn ich keine Rechenschaft ablegen muss, dann brauche ich mir auch keine Gewissenbisse über mein Verhalten zu machen. Wenn ich mich oute, dann muss ich auch damit rechnen, dass mir der Geldhahn zugedreht wird, um mich vor weiteren finaziellen Verlusten zu schützen, mir aber auch den Suchtdruck zu nehmen, damit ich mich auf meine Genesung konzentrieren kann. Habe ich allerdings weiter Zugriff ... naja ... Du weisst ja, was da kommen kann ...
Dabei heisst die Einführung eines Geldmanagements doch nicht zwangsläufig, und da bediene ich mich mal einem der häufigsten Ängste, wie bei einem Kind Taschengeld zugewiesen zu bekommen. Zu bitten und zu betteln, damit ich mein eigenes Geld nutzen kann.
Wer so denkst und so handelt, der hat den Sinn eines Geldmanagements nicht verstanden und sieht die Hilfe nicht, die dahinter steckt.
Zwischen dem Jetztzustand und dem gerade geschilderten, der übrigens durchaus legitim sein kann, liegen tausende von Möglichkeiten, von denen eine wahrscheinlich genau passen wird.
Nachtrag: Es gibt immer jemanden, der mehr Geld auf dem Konto hat. Was hat das aber mit meiner Wertigkeit zu tun?