https://www.focus.de/finanzen/news/gluecksspiel-sportwettenmarkt-boomt_id_12683200.htmlFOCUS Magazin | Nr. 48 (2020)
Titel
Im Hinterzimmer des Fußballs
Sonntag, 29.11.2020, 11:02 · · von FOCUS-Autor Text Christoph Elflein Und Maximilian von Krones
Noch bis vor Kurzem waren die meisten Sportwetten hierzulande illegal. Jetzt haben viele Anbieter eine staatliche Lizenz. Der Blick hinter die Milchglasscheiben zeigt ein Geschäft, das sich aus einem verruchten Milieu in die glitzernde Welt der Private-Equity-Firmen entwickelt hat.
Fußball kann so langweilig sein. Ein Spiel geht 90 Minuten und bietet durchschnittlich 3,21 Tore. Das ist erstens vergleichsweise lang und zweitens vergleichsweise wenig. Benjamin Speckenbach kennt diese Statistik genau, und er hat ein ambivalentes Verhältnis zu ereignislosen Spielen. Als Fußballfan langweilen sie ihn, in seinem Job sind sie Geschäftsgrundlage.
Speckenbach ist Chefbuchmacher bei Tipico und lebt da - mit von Nullnummern. Der Sportwettenanbieter ist Marktführer in Deutschland, und in diesem Geschäft sind nackte Zahlen, emotionslose Statistiken und torlose Unentschieden verdammt wichtig.
Denn eine Wette ist oft der Ausdruck einer Sehnsucht. Wer wünscht sich schon ein Null-zu-null? Würde ein wahrer Fan wirklich gegen seinen Verein tippen? Aus Anbietersicht ist es das Beste, was passieren kann, weil niemand darauf hofft ergo setzt. Wetten ist irgendwie auch Gefühlssache. Wer gewinnt, weiß man aus dem Bauch heraus. In Deutschland stand schließlich jeder schon mal auf dem Fußballfeld, da wird Vereinstreue vererbt („Mein Vater war schon Bayern-Fan“), da leben 83 Millionen Nationaltrainer.
Und genau an diesem Punkt, zwischen Hoffnung und Wahrscheinlichkeit, Sportheim und Statistik, hat Tipico seine Marktlücke gefunden. Denn was könnte diese verflixten 90 Minuten noch spannender machen als ein paar schöne Tore? Richtig, der passende Wettschein.
Das Geschäft mit der Sehnsucht
Die Sportwettenbranche boomt. Die Anbieter sind über die Jahre zu mächtigen Konzernen gewachsen, die eng mit dem Sport verzahnt sind. Weltweit werden geschätzt 1,69 Billionen Euro pro Jahr mit legalen und auch illegalen Wetten umgesetzt. Auf jedes Bundesligaspiel werden durchschnittlich 100 Millionen Euro platziert. Allein Tipico macht jährlich rund eine Milliarde Euro Umsatz. Kein Wunder, dass fast alle deutschen Bundesligisten einen Sportwettensponsor haben. In beinahe jeder deutschen Kleinstadt gibt es ein Wettbüro. Tipico betreibt 850 davon und ist auch in der Werbung so präsent wie kein anderer Anbieter in Deutschland. Es ist ein sensationslüsternes Geschäft mit dem schnellen Geld.
Ein Geschäft, das in Deutschland nie wirklich legal war und das sich aus der Grauzone in unseren Alltag geschlichen hat. Wie funktioniert es?
Tipico hat zwischen Sportheim und Statistik eine Marktlücke gefunden
Benjamin Speckenbach kann sich noch genau an das Viertelfinale der Champions League in diesem Jahr erinnern. Für ihn war es ein Desaster. Bayern gewann 8:2 gegen Barcelona. „An diesem Abend ist fast gar nichts bei uns hängen geblieben“, sagt der Buchmacher. Viele Tore sind schlecht fürs Geschäft.
Bei Tipico ist Speckenbach der Chef der Quote. Er macht die Preise. Für das Spiel Bayern gegen Barcelona stand sie auf einen München-Sieg 1,95. Das bedeutet, für einen Euro Einsatz gab es bei einem richtigen Tipp 1,95 Euro zurück. Die Barcelona-Quote war höher. Die Katalanen waren vergangene Saison weniger beständig und erhielten eine Siegquote von 3,5. Insgesamt zahlt Tipico 95 Prozent der Einsätze als Gewinne wieder aus. Fünf Prozent Gewinnmarge werden in die Quoten eingerechnet.
Um die festzulegen, greift der Wirtschaftswissenschaftler auf ein Team von Statistikern zurück. „Die schauen sich die letzten Ergebnisse der einzelnen Teams, aber auch die historischen Werte der Duelle zwischen beiden Mannschaften an“, erklärt Speckenbach. Hinzu komme dann die Einschätzung von Experten. „Wenn jemand fünfmal in Folge gewonnen hat, heißt das nicht, dass er dabei auch gut gespielt hat.“ Außerdem fließen verletzte Spieler, der Anfahrtsweg oder die Regenerationszeit zwischen den Spielen mit in die Quote. „Manchmal muss der Buchmacher da auch mit Bauchgefühl operieren.“
»Manchmal muss der Buchmacher auch mit Bauchgefühl operieren«
Benjamin Speckenbach Chefbuchmacher bei Tipico
Speckenbach ist sportbegeistert, das glaubt man ihm. Auf dem Papier ist er aber die Schlüsselfigur eines Unternehmens, das 16 Jahre lang halbseidene Geschäfte in Deutschland machte.
Denn nach deutscher Gesetzeslage waren die meisten Sportwetten bis in den Oktober 2020 illegal. Tipico und andere Anbieter wie Xtip oder Bet3000 haben ihre Unternehmenszentralen auf Malta. Dort operieren sie mit einer maltesischen Lizenz nach EU-Recht und konnten so die strengen deutschen Gesetze umgehen.
Malta als sicherer Hafen
Auf der kleinen Insel im Mittelmeer hat sich inzwischen die europäische Sportwettenelite gesammelt und trägt stolze zwölf Prozent zum BIP des Landes bei. Malta bietet neben lockeren Glücksspielregulierungen auch Steuervorteile und andere Annehmlichkeiten. Wer Investitionen in Höhe von 1,15 Millionen Euro tätigt, bekommt die maltesische Staatsbürgerschaft obendrauf. Quasi das goldene Ticket in die EU.
Zweikämpfe mit ausgefahrenen Ellenbogen
Neben den glänzenden gibt es aber auch Schattenseiten. Im Jahr 2017 starb die Journalistin Daphne Galizia durch eine Autobombe, kurz nachdem sie Verbindungen der italienischen Mafia mit maltesischen Wettanbietern aufgedeckt hatte. Sogar der Premierminister trat zurück, weil seine Regierung ebenfalls in den Skandal verwickelt ist. Malta mag Teil der EU sein. Als der Inselstaat 2004 der Gemeinschaft beitrat, dachte man in Brüssel aber auch noch ernsthaft über ein en Beitritt d er Türkei nach.
War die Grauzone besser?
Nun will der deutsche Staat Ordnung ins Chaos bringen. Seit Oktober sind Sportwetten in Deutschland legal. Ganz plötzlich. Der Durchbruch wurde vom hessischen Regierungspräsidium in Darmstadt verkündet, das zuvor mit der Lizenzierung von den anderen Bundesländern beauftragt wurde. Unter den inzwischen 18 Lizenznehmern sind unter anderen Bwin, Admiral oder auch Tipico
Die aktuelle Regelung gilt, bis der neue Glücksspielstaatsvertrag im Sommer 2021 in Kraft tritt. Alles, was jetzt passiert, ist quasi eine Art Probelauf. Und das Regelwerk hat seine Tücken und Absurditäten.
Zum Schutz der Spieler dürfen beispielsweise pro Onlineanbieter nur 1000 Euro pro Monat eingezahlt werden. Im stationären Wettbüro gibt es aber kein Limit. Viele Livewetten, also Wetten auf Ereignisse während des Spiels, wie etwa die nächste Gelbe Karte, wurden für die Lizenznehmer eingeschränkt. Zu hoch sei das Suchtpotenzial, findet der Gesetzgeber. Bei Onlineanbietern, die noch immer mit maltesischen Lizenzen arbeiten, bleiben diese Wetten jedoch im Angebot. Der Kunde spielt dann zwar wieder in der Grauzone, aber das hat in den letzten 16 Jahren ja auch niemanden gestört.
Die inzwischen lizenzierten Anbieter sind deshalb zwiegespalten. Einerseits haben sie nun endlich Rechtssicherheit. Das ist wichtig für Investoren. Denn entgegen der Vermutung stehen hinter vielen der schummrigen Wettbüros börsennotierte Konzerne wie etwa die GVC Holdings im Fall von Bwin oder der Private-Equity-Riese CVC bei Tipico.
Andererseits treffen die neuen Einschränkungen das Geschäft hart. Branchenkenner gehen davon aus, dass etwa 50 Prozent der Umsätze mit Livewetten generiert werden. Außerdem bremst das Einsatzlimit die sogenannten Highroller aus. Also die Zocker, die mit sehr hohen Einsätzen spielen und viel Geld bei den Anbietern liegen lassen.
„Wenn unser Produkt den Kunden am Ende enttäuscht, wird er den regulierten Markt verlassen“, sagt Tipico-Compliance-Chef Joachim Häusler. Das ist ein bemerkenswerter Satz. Er stammt schließlich von einem Mann, dessen Unternehmen genau davon jahrelang profitiert hat.
1000 Euro Einsatz können Spieler aktuell maximal bei legalen Anbietern pro Monat setzenBrutaler Kampf um Marktanteile
Tipico reagiert aktuell aggressiv auf die neue Situation. Kurz nach der Lizenzierung wandte sich der Konzern an seine TV-Werbepartner, unter anderem ProSiebenSat.1, Discovery, Sky und Sport1. „Tipico stellt den Sachverhalt so dar, dass alle unlizenzierten Anbieter - auch wenn sie einen Konzessionsantrag gestellt haben, über den noch nicht entschieden wurde - nun nicht mehr von den Sendern beworben werden dürfen“, deutet ein Insider das Schreiben, das auch FOCUS vorliegt. Der Marktführer wolle sich damit einen Wettbewerbsvorteil verschaffen.
„Und zwar unter Vorspiegelung einer falschen Rechtslage.“ Tipico widerspricht und hält sein Vorgehen für legal. Dabei stützt sich das Unternehmen auf die Vorgaben der Regulierungsbehörde aus Darmstadt.
Werbung mit aktuellen Fußballern untersagt
Grundsätzlich testen die Anbieter die juristischen Grenzen gerne aus. So wirbt Tipico mit Torhüterlegende und FC-Bayern-Vorstand Oliver Kahn, der verspricht: „Ihre Wette in sicheren Händen.“ Das Problem ist nur: Diese Kampagne verstößt wohl gegen aktuelle Richtlinien. Denn die deutsche Lizenz bringt auch Einschränkungen für die Werbung. Anzeigen mit aktiven Spielern oder Funktionären sind demnach untersagt.
Auch diesen Vorwurf weist Tipico von sich. Andere Anbieter wie Xtip distanzierten sich allerdings schon im Oktober von ihren prominenten Werbegesichtern. Tipico hingegen wirbt noch bis zum nächsten Sommer mit Oliver Kahn, wie das Unternehmen auf Nachfrage mitteilt.
Im Moment ermittelt zudem die Frankfurter Staatsanwaltschaft gegen den Marktführer wegen des Verdachts der unerlaubten Veranstaltung von Glücksspielen. Im Mittelpunkt steht das Online-Casino-Angebot. Der Anbieter bekräftigt, dass das Angebot legal sei und die Ermittlungen „daher ins Leere laufen“.
Auch in der Vergangenheit tauchte der Name des Unternehmens schon in Gerichtsakten auf. In einem Verfahren in Frankfurt ging es auch darum, inwieweit Wettbuden von Tipico von Kriminellen zur Geldwäsche missbraucht wurden.
Frankfurter Staatsanwaltschaft ermittelt
Der Frankfurter Oberstaatsanwalt Noah Krüger ermittelte dabei gegen einen deutschlandweit agierenden Drogenring. Weil die Verbrecher ihre Einkünfte aus dem Verkauf von 350 Kilo kolumbianischem Kokain waschen mussten, stiegen zwei von ihnen nach Erkenntnissen der Fahnder als Franchise-Unternehmer in gut 30 Tipico-Filialen in Frankfurt und Wiesbaden ein. Noahs grundsätzliche Kritik: „Offenbar hat der Wettanbieter seine Geschäftspartner nicht genau geprüft.“ Sonst wäre schnell aufgeflogen, dass die beiden aus der Türsteherszene ihr Eigenkapital für den Einstieg „wohl kaum legal erworben haben könnten“. Laut FOCUS-Informationen muss ein Franchisenehmer rund 120.000 Euro selbst mitbringen.
Dann setzten die Kriminellen offenbar Drogengeld über Strohmänner auf ausgewählte Partien - allerdings auf absolut unrealistische Ergebnisse (FC Ingolstadt gegen FC Bayern 5:0). Am Ende landete so der schmutzige Einsatz sauber in der Kasse des Franchisenehmers. Ordentlich versteuert, wird schmutziges Geld so zu offiziellen Einkünften aus unternehmerischer Tätigkeit. Tipico gibt an, seine Franchisenehmer seither besser zu überprüfen.
Imageschädigend sind aber nicht nur Skandale. Der Sportwettenboom hat nämlich über die Jahre nicht nur Gewinner produziert.
Martin R. sitzt in einer Shishabar in Berlin und wirkt aufgeregt. Er spricht normalerweise nicht über seine Krankheit. „Aber ich will, dass die Leute verstehen, wie gefährlich Sportwetten sind.“ Mit 17 gab der Bauleiter seinen ersten Wettschein ab. „Das war schnelles Geld.“ Seinen letzten füllte er erst 14 Jahre später aus. Bis dahin hatte er 60.000 Euro verspielt und knapp 30.000 Euro Schulden angehäuft.
Martin bemerkte früh, dass er ein Problem hat. Er zockte trotzdem weiter. „Jeden Verlust wollte ich mit einer noch riskanteren Wette wiedergutmachen.“ Irgendwann musste er Kredite aufnehmen, um weiterspielen zu können. Er erzählte niemandem von seiner Sucht. Zum Selbstschutz hielt er sich von Onlinewetten fern. „So musste ich wenigstens noch in den Wettshop laufen, um zu spielen.“
Die Sucht auf Pump
Vor drei Jahren flog sein Doppelleben dann auf. „Am 23.11.2017 habe ich das letzte Mal gewettet“, sagt er. Am darauf folgenden Spieltag traf Dortmund auf Schalke. Die Schwarz-Gelben führten zur Halbzeit 4:0. Martin, Dortmund-Fan, setzte im Vorfeld 500 Euro auf einen Sieg seines Klubs. Dann passierte, was nicht passieren durfte. Schalke glich in der zweiten Hälfte Tor für Tor aus und rettete das 4:4. „Ich war damals auf einem Wochenendtrip, und zur gleichen Zeit entdeckte meine Freundin die Kreditverträge in meinen Unterlagen“, erzählt er. „Es war schrecklich, aber gleichzeitig ist eine immense Last von mir abgefallen.“ Nachdem Dortmund den Sieg verschenkte und Martins Spielsucht erkannt wurde, weihte er sein Umfeld ein. Der 34-Jährige besucht bis heute eine Selbsthilfegruppe. Lange Zeit bekam er Taschengeld von seiner Freundin. „Ich musste mir selbst den Geldhahn abdrehen.“ Er ging sogar zu seiner Bank, legte seine Sucht offen und ließ sich in seinem Stammwettbüro Hausverbot erteilen. „Ich laufe da immer noch zweimal die Woche vorbei“, Martin ist wütend, „ich könnte denen vor die Tür spucken für all das Leid, das sie verursachen.“
20 Prozent der Glücksspielsüchtigen sind abhängig von Sportwetten
Experte sagt: „Sportwetten sind Glücksspiel“
Tobias Hayer beschäftigt sich seit knapp 20 Jahren mit dem Ursprung dieses Leids. „Sportwetten sind Glücksspiel“, sagt der Psychologe von der Universität Bremen. Oft begegnet ihm die Behauptung, die Wetten seien harmlos. „Das ist gefährlich, weil die Spieler dem Irrglauben hinterherjagen, ihr Fachwissen langfristig zu Geld machen zu können“, betont Hayer.
Gerade Fußballfans und aktive Sportler sind gefährdet. Sportwetten seien eine hervorragende Projektionsfläche für kognitive Verzerrungen. „Wenn sie gewonnen haben, war das ihr Fachwissen. Wenn sie verloren haben, dann versuchen sie Gründe zu finden, die außerhalb ihrer Kompetenz liegen: der Schiri, der Trainer, Verletzungspech.“ Diese scheinbare Kontrolle über Gewinne und Verluste sei fatal. Bis zu 20 Prozent der Menschen, die sich an Hilfseinrichtungen für Glücksspielabhängige wenden, seien inzwischen Sportwetter, erklärt Hayer. Tendenz steigend.
Der Wissenschaftler ist kein absoluter Gegner des Glücksspiels. „Ich glaube, wir brauchen ein hinreichend attraktives Angebot“, sagt der 46-Jährige, „aber es sollte anders aussehen, als es bislang der Fall war und künftig sein wird.“
Die Glücksspielbranche versuche in dieser Debatte, die Schuld den Betroffenen selbst zuzuschieben, und argumentiere unter anderem mit einer genetischen Prädisposition. Hayer hält das für bedrohlich. „Es gibt gewisse Persönlichkeitseigenschaften, die eine Person anfälliger fürs Glücksspiel machen, aber die werden erst wirksam, wenn sie auf äußere Reize treffen“, sagt der Psychologe. Eine hohe Spielgeschwindigkeit, wie etwa bei den Livewetten, ein schnelles Auszahlungsintervall und eine breite Verfügbarkeit sind besonders schädlich für Spieler. Lotto kann man zweimal die Woche spielen, Sportwetten werden zu jeder Tages- und Nachtzeit angeboten. „Der Sportwetter ist eher der Kokser unter den Glücksspielern“, sagt Hayer. „Der will den Kick und seine Emotionen potenzieren.“ Fußball kann manchmal eben so langweilig sein.