Hallo Chris!
Ich weiss, dass er es selbst wollen muss. Meine Mutter hat sich schon viel mehr mit dem Thema beschäftigt und Kontakt mit den entsprechenden Leuten aufgenommen und ihr wurde immer wieder gesagt, dass sie nichts machen kann, dass er selbst es wollen muss und dass er erst ganz unten sein muss, bevor er bereit ist, etwas zu tun.
Als mein Bruder noch zu Hause wohnte, hat er den ganzen Tag geschlafen oder fern gesehen und am Abend ist er "auf Tour" gegangen. Wenn meine Mama ihm sagte, sie hätte gekocht, er solle essen kommen, oder wenn jemand von uns ihn zum Essen holen wollte, lag er im Bett und schlief oder tat so als ob und sagte, er wolle nichts. Wenn niemand zu Hause war, plünderte er dann den Kühlschrank, sonst hat er oft den ganzen Tag gar nichts gegessen. Er hatte die Wohnung meiner Oma im Erdgeschoss für sich allein und dort stank es und sah aus wie in einem Schweinestall. Er hat zu Hause keinen Finger gerührt. Wenn er sich vom Kühlschrank meiner Eltern bediente, räumte er oft danach nicht einmal sein schmutziges Geschirr weg. Er hatte auch keine Lust, zu arbeiten. Ich glaube, er hat sich gedacht, dass er doch ganz gut lebt, ohne arbeiten zu müssen. Er hat auch nie die Lehrabschlussprüfung fertig gemacht (ihm fehlt nur noch eine Prüfung), deshalb sind seine Aussichten auf einen "besseren" Job auch sehr gering und er hat keine Lust auf körperliche Arbeit.
Meine Mutter leidet leider selbst schon jahrelang an Depressionen und muss ständig Tabletten nehmen, damit es ihr gut geht. Sie wurde mit der Situation nicht mehr fertig. Deshalb haben meine Eltern beschlossen, ihm eine eigene Wohnung in der Nähe zu besorgen. Dort hätte er seine Ruhe, nicht dauernd Krach mit meiner Mutter, und könnte so leben wie er wolle. Er hat eine total schöne, sonnige Wohnung bekommen, die sehr günstig war. Leider kam es ab da immer öfter vor, dass er sich in der Wohnung einsperrte und das Handy abschaltete. Meine Eltern hatten zwar einen Zweitschlüssel aber da er den Schlüssel innen stecken lies, kamen sie nicht hinein. Als dies das erste Mal passierte, hatten meine Eltern solche Angst, dass er sich etwas angetan hätte und vielleicht nicht einmal mehr leben würde, dass sie die Polizei holten und die Wohnung aufgebrochen wurde. Schön langsam sahen wir, dass er sich in regelmässigen Abständen zurückzog, seine Ruhe und keinen Kontakt zu uns haben wollte und dass er dann von selbst wieder zu uns kam. Meine Mama hat ihm ständig Lebensmittel oder Medikamente (wenn er grippig war oder Zahnschmerzen hatte) gebracht. Er macht ihr nie die Tür auf. Sie war sehr gekränkt und sie stellte ihm die Sachen eben vor die Wohnungstür. Er holte sich immer alles, schickte aber nicht einmal eine Dankeschön-SMS. Mein Papa hat ihm öfters Handywertkarten in den Briefkasten geschmissen, weil er dachte, so hätte er wenigstens über das Handy Kontakt zur Außenwelt und würde sich nicht ganz allein fühlen.
Natürlich konnte mein Bruder die Miete nicht zahlen und meine Eltern zahlten ihm ständig die Schulden weg, in der Hoffnung, er würde sich ändern und hätte ohne Schulden neuen Mut, etwas zu ändern. Irgendwann haben sie beschlossen, ihm finanziell nicht mehr zu helfen und ihn wieder nach Hause zu holen.
Als er wieder zu Hause war, passierte natürlich wieder das gleiche wie vorher. Er hat nach Mitternacht dann sehr oft telefoniert und da sein Schlafzimmer genau unter dem Schlafzimmer der Eltern lag und die Wände sehr dünn sind, hörte meine Mama ihn telefonieren und konnte nicht schlafen. Sie war stinksauer, weil sie nicht schlafen konnte, am nächsten Tag früh aufstehen und arbeiten gehen musste und er keinen Finger rührte. Meine Mama fühlte sich voll ausgenutzt. Sie hat sich ein paar Mal beschwert und ihm gesagt, dass er nicht in der Nacht telefonieren solle, weil sie nicht schlafen könnte aber er hat es wieder gemacht. Dann platze ihr der Kragen und sie ist um 3 Uhr früh zu ihm hinunter und hat gesagt, er soll verschwinden. Er ist dann gegangen ohne etwas mitzunehmen und war wieder tagelang nicht erreichbar. Meine Mama machte sich große Vorwürfe, weil er ja keine Wohnung mehr hatte und nichts mitgenommen hatte. Er hatte also kein Geld und nur die Kleidung, die er am Leib trug. Sie sah aber auch ein, dass das wahrscheinlich notwendig war, damit er etwas an seinem Leben änderte und aus dem Teufelskreis herauskommen könnte. Ein paar Tage später hatte ich Glück und er hob ab, als ich ihn anrief. Er hatte innerhalb eines Tages ein Zimmer vom Sozialamt bekommen und er hatte einen Platz gefunden, wo er kostenlos essen konnte. Das war meiner Meinung nach der tiefste Punkt in seinem Leben. Also, wie tief muss man noch fallen? Reicht das noch nicht?
Er hat kein Geld, keinen Job, kein Auto, ein winziges Zimmer, das total versifft ist...
Ich weiss jetzt noch immer nicht, was ich tun kann. Ich habe ihm gestern nacht eine SMS geschickt:
"Lieber ...! Ich mache mir sorgen um dich! Ich will dir so gern helfen. Ich bin da für dich, rund um die uhr. Ich liebe dich. Du bist doch mein einziger bruder! du bist so ein lieber, einzigartiger mensch, so wertvoll, du hast so viel drauf und noch dein ganzes leben vor dir. Gemeinsam schaffen wir es. Hab mut! Ich liebe dich, bitte komm zurück ins leben! Alles liebe, deine schwester ..."
Er hat sie heute um halb 9 gelesen aber nicht reagiert. Dani hat ihn vorhin angerufen aber das handy war wieder abgeschalten ...