Moin,
ich gebe mal wieder ungefragt meinen Senf zu Themen die hier Börse/Trading tangieren - mitunter auch, weil ich meine eigene Geschichte daran reflektiere. Das geht soweit, dass ich jetzt nebenberuflich ein Psycholoigiestudium begonnen habe, leider gegenwärtig zu wenig Fokus dafür aber dennoch ist das Interesse daran wie unsere Psyche so tickt, sehr groß. Ich habe in der Zwischenzeit mit Leuten gesprochen, die alles (und ich meine dann tatsächlich so ziemlich alles, Haus, Hof, Frau und Kinder) verloren haben. Wo das Wörtchen Ruin nicht nur eine Metapher ist. Und jemand der einen 8-stelligen Account verwaltet, bescheiden lebt und eigentlich bis Lebensende ausgesorgt hat - aber vor Verlustangst zerfressen ist. Dann noch jemand, der meint das Thema komplett verstanden zu haben und in über 30 Jahren einen Verlusttopf in Höhe von über einer Mio aufgebaut hat (und immer noch meint, dass er das Spiel durchschaut hat und bei einem gemeinsamen Biergartenbesuch ausschließlich in positivster Konnotation über sein Trading berichtete).
Irgendwann würde ich vielleicht mal gerne ein Buch darüber veröffentlichen.
Ja, man sollte sein Geld für sich arbeiten lassen. Und nein, man sollte es nicht dem ahnungslosen Verkäufer aus der Bankfiliale in den Rachen werfen. Die Frage die ich mir stelle und, wenn ich ehrlich zu mir bin, für meinen Teil bis heute nicht abschließend beantworten kann: wie genau definiert sich die Grenze zwischen Investieren und Glückspiel? Meine Meinung hier und jetzt und ggf auch konträr zu Statements aus früheren Beiträgen: das ist kein weiter Burggraben. Das ist auch keine hohe Mauer. Vielleicht ist es eine, so fragil wie manch andere "Brandmauer" heutzutage?!
Ich arbeite im institutionellen Finanzumfeld in einem großen Corporate. Da ist die gängige Meinung natürlich "wir zocken hier nicht" - untermauert mit Unmengen an Guidelines, Compliance-Abteilung, Trennung nach Front- und Back-Office, bla bla bla bla. Und wenn man sich dann nach Feierabend mal mit Kollegen austauscht was die so privat an den Märkten treiben (und das tun natürlich 99% in meiner Blase), dann ist das nach meiner subjektiven Einschätzung zu einem beachtlichen Teil schlicht Zockerei (viele geben es auch zu: als Ausgleich zum langweiligen Handel im Job, als Hobby, das schnelle Geld mit gehebelten Immobilien-Invests, was auch immer).
Das tue ich im Bereich Geldanlage jetzt nicht mehr, da ist jetzt Kontrolle drin;
Entschuldige bitte diesen Begriff, doch so sehe ich das. Du hast eigentlich gar nichts verändert. Du hast Dir lediglich Deine Zockerstandpunkte neu organisiert und versuchst über Kontrolle zu beweisen, dass Du richtig liegst.
Dem geneigten Leser hier noch folgender, meiner Meinung nach wichtiger Kontext: die Märkte stehen gerade an Allzeithochs, jedes blinde Huhn hat in den letzten Monaten reichlich Körner gefunden. Ich handle auch mit einem Regelwerk - aber Hand aufs Herz: völlig 100% emotionslos läuft das nicht ab. Auch wenn man seine Limits fest eingegeben hat - wenn man dann früh in seinen Emails sieht, dass ein Gewinn mitten in der Nacht realisiert wurde, dann bleibt zumindest ein Hauch von Zufriedenheit, egal wie sehr man sich einredet dass das außerhalb des eigenen Kontroillbereichs lag. Wenn man blöd ausgestoppt wird, dann bleibt aus ursprünglich mal großem Geschimpfe auf Gott und die Welt immer noch ein kleiner Seufzer und die Gewissheit, dass man sich an seine Regeln gehalten hat, wird verzerrt von dem Gedanken "die 10 Punkte hätte ich auch weiter weg gehen können". Oder bla bla bla bla, mir würden noch zig weitere Beispiele einfallen die an der Stelle nicht viel Mehrwert in den Beitrag bringen würden.
Will sagen: wer garantiert dir, dass du es wirklich unter Kontrolle hast? Oder ob das tägliche Auf und Ab an den Märkten nicht eher die sprichwörtlichen Würfel in der Luft sind, einhergehend mit einer nie endenden Dopamin-Flut. ETF-Sparpläne sind da übrigens auch kein Totschlagargument: die allokieren in aller Regel das Kapital entlang der Marktkapitalisierung. Und das spekulative, "schnelle Geld" fühlt sich dort wohl - man kann durchaus auch mit ETF Sparplänen zocken.
Das soll weiß Gott kein Aufruf dazu sein, sein Geld nicht rational anzulegen - aber doch die mahnende Erinnerung zu hinterfragen:
wie sehr Du in Deinen Suchtstrukturen gefangen zu sein scheinst
weil eben die einem selbst suggerieren könnten, etwas unter Kontrolle zu haben, was man tatsächlich nicht unter Kontrolle hat. Und um Börsen-affin zu bleiben, hier passt das Mark Twain Zitat aus der Eröffnungssequenz von The Big Short wie die Faust aufs Auge: "It Ain't What You Don't Know That Gets You Into Trouble. It's What You Know for Sure That Just Ain't So"