Hallo,
ich bin 37 Jahre alt, spekuliere seit 18 Jahre an der Börse und bezeichne mich als „spekulationssüchtig“. Um gleich mal die Tragweite und Schwere vorwegzunehmen: bis heute habe ich dadurch fast 95.000 EUR verloren, ganz zu schweigen von meiner Lebenszeit.
Angefangen hat es im Jahr 2000 zur Zeit des Neuen Marktes mit normalen Aktieninvestments: Apple, Deutsche Telekom und Tipps von Börsenbriefen (Neuemissionen). Natürlich verkaufte ich entgegen der Empfehlung meines damaligen Bankberaters die Aktien nach Emission nicht, sondern hielt die Titel, bis sie im Laufe der Jahre nur noch ein Bruchteil Wert waren. In dieser Zeit hatte ich null Ahnung vom Wertpapierhandel.
Ein Jahr später, in 2001, lernte ich jemanden kennen, der sich auf das Trading von Penny Stocks spezialisiert hatte: die Idee dahinter war, Unternehmen, deren Aktienkurs auf wenige Cent gefallen war, zu kaufen, um dann von einer vermeintlichen Umkehr zu profitieren und Riesengewinne zu erzielen. Auch das lief sehr schlecht und unter dem Strich verlor ich weiter Geld.
Dann begann ich zu studieren und hatte neben den Vorlesungen und in den Semesterferien genug Zeit, mich mit meiner Leidenschaft Börse zu beschäftigen.
Zu der Zeit las ich sehr viele Bücher, versuchte mich weiterzubilden und entwickelte erste eigene Gedanken zum Risikomanagement und Handelsstrategien. In 2004 und 2005 stieg ich dann auf Turbo-Zertifikate (Derivate) um und handelte fortan den Dax. Ein Konzept war nun grob vorhanden, es gab tatsächlich auch mal den ein oder anderen Gewinn, aber die Anzahl der Verluste überwog klar.
In 2006 ging es dann mit dem CFD-Handel los. CFD (Contract for Difference) bezeichnet eine Form von außerbörslich gehandeltem Derivat, das besonders bei Kleinanlegern aufgrund seiner Transparenz und der vermeintlich günstigen Kostenstruktur sehr beliebt ist. Ich feilte auch mit CFDs weiter an meiner Handelsstrategie und glaubte Mitte 2006 endlich meinen Weg gefunden zu haben. Wie das am Kapitalmarkt aber so ist, gibt es Strategien, die eine Zeitlang funktionieren und dann eben nicht mehr. Zu diesem Zeitpunkt waren über die Jahre bereits Verluste in Höhe von knapp 30.000 EUR angefallen und selbstverständlich war ich getrieben vom Wunsch, diese Verluste wieder aufzuholen.
Ich hörte nicht damit auf, weitere Bücher zu lesen, die Charts rauf und runter zu analysieren und jedes überschüssige Geld (durch Jobs in den Semesterferien) an die Börse zu tragen. Zwischendurch hatte ich auch immer mal Wochen oder Monate der Pause, nämlich dann, wenn mein Konto leer war und ich für die Prüfungen lernen musste. Ich hatte im Übrigen meinen Kopf erst dann fürs Lernen frei, wenn auch ganz bestimmt kein Geld mehr zum Spekulieren vorhanden war.
So vergingen die Jahre, ich schloss mein Studium in 2009 erfolgreich ab und fand auch direkt einen Job (trotz Finanzkrise).
Ich hatte nun natürlich weitaus mehr Geld zur Verfügung, war aber durch den Job auf der anderen Seite auch ausgelastet, sodass sich die Beträge in Grenzen hielten. Ein einschneidendes Verlusterlebnis ist mir dennoch in Erinnerung geblieben, als ich um August 2011 auf steigende Kurse beim Dax setzte und ich mein Depot innerhalb von nur zwei Tagen geschrottet habe. Was soll ich sagen, die klassischen Fehler: zu großer Hebel und im Verlust nachgekauft. Meine Positionen wurden zwangsliquidiert. Ein Verlust von 6.000 EUR war entstanden. Das war das erste Mal, dass ich ziemlich am Boden zerstört war und auch schlecht geschlafen habe.
In 2012, mittlerweile war ich also seit drei Jahren in einer Festanstellung, stellte ich meine gesamte Börsenspekuliererei in Frage. Ich machte eine Aufstellung über die letzten 12 Jahre und fand heraus, dass ich nur ein Jahr mit einem Gewinn von unter 1.000 EUR abgeschlossen hatte. Insgesamt beliefen sich meine Börsenverluste damals auf 35.000 EUR.
Meine Freundin (heute Frau) hatte damals schon auch immer mitbekommen, dass ich mich als Chartanalyst versuchte, und war auch der Meinung, dass mir das nicht guttun würde. Ich würde ja so lange nun schon nur Verluste einfahren und sollte mich lieber auf meinen Beruf oder was anderes konzentrieren.
Im Folgenden machte ich ein Job-Coaching, startete mit einer Weiterbildung und bewarb mich für ein internationales Management-Programm bei meinem Arbeitgeber.
Was soll ich sagen: es lief. Noch im Sommer machte ich meiner Frau einen Heiratsantrag, ich wurde ein Jahr später befördert, in das internationale Management-Programm aufgenommen und noch etwas Wundervolles passierte: ich sollte Vater werden.
Von März 2012 bis April 2015 war ich dann auch komplett spekulationsfrei.
Im April 2015 ging es dann wieder los. Ein besonderes Ereignis kann ich gar nicht mehr festmachen, vielleicht aus Langeweile, vielleicht war ich unzufrieden oder nicht ausgelast. Jedenfalls zahlte ich einen kleinen Betrag (400 EUR) auf mein CFD-Konto und wollte es wieder wagen. In den ersten Wochen und Monaten war ich wenig aktiv und machte bis Anfang September vielleicht 30 Geschäfte (Trades), die mein Konto auf 100 EUR reduzierten. Im Laufe des Septembers, ich weiß es noch ganz genau, begann ich damit, auf steigende Zinsen zu setzen (indem ich auf fallende Preise beim Bund-CFD setzte). Dazu zahlte ich nochmal ein paar Hundert Euro ein. Es war kleines Geld, was sollte schon passieren. Ich eröffnete also erste Positionen und machte weiter nichts, es war als längerfristiges Investment geplant. Die Kurse des Bund-CFD stiegen und ich kaufte weiter nach (das war Ende September). Die Position wurde immer größer und ich war gezwungen, Geld als Sicherheit nachzuschießen. Geld, das ich mir vom gemeinsamen Ersparten meiner Frau und mir nahm. 5.000 EUR überwies ich von dem Konto im festen Glauben daran, dass ich mir das Geld nur für eine vorübergehende Schieflage leihen würde.
Nur wenige Tage später, der Bund-CFD stieg weiter, kaufte ich abermals nach und Anfang Oktober war ich bereits gezwungen, weitere 5.000 EUR von den Ersparnissen nachzuschießen. Ende Oktober waren es weitere 14.000 EUR. Ich hatte zu der Zeit Buchverluste von 5.000 EUR.
Auch im November wollte der Anstieg des Bund-CFD nicht aufhören: ich kaufte weiter fleißig nach und musste immer mehr Geld nachschießen: bis Ende November folgten weitere 16.000 EUR, wieder vom gemeinsamen Konto. Da meine Frau dieses Konto nur sporadisch prüfte, fielen meine Entnahmen auch erst mal gar nicht auf.
Im Dezember kam dann der lang ersehnte Fall des Bund-CFD und ich war zwischenzeitlich 5.000 EUR im Gewinn. In diesem Augenblick wollte ich aber nicht aufhören: ich sagte mir, jetzt bist du so ein immenses Risiko eingegangen, da muss mehr rausspringen bei dem Geschäft und wurde gierig. Außerdem heißt es ja auch so schön: Gewinne muss man laufen lassen. Das tat ich dann auch.
Im Januar 2016 kam dann (zunächst bei mir im Depot und noch nicht bei der Familie) der große Knall: der Preis des Bund-CFD schoss weiter in die Höhe und ich war schließlich zur Liquidation gezwungen. Verlust: 45.000 EUR. Ich war wie paralysiert. Zu realisieren, dass ich mit dem Geld der Familie gezockt hatte, dass ich dieses Konto nicht mehr würde auffüllen können, warf mich aus der Bahn. Natürlich versuchte ich mit dem übrig gebliebenen Geld von knapp 5.000 EUR, das verlorene Geld wieder zurückzuholen. Teilweise gelang mir das auch und ich konnte das Konto nochmal auf knapp 20.000 EUR hoch traden. Nur war das von kurzer Dauer: in der Folge verlor ich auch dieses Geld wieder bei weiteren waghalsigen und völlig überhebelten Spekulationen.
Anfang März 2016 fragte mich meine Frau dann über das Konto aus und so flog alles auf. Meine Frau war am Boden zerstört. Ich habe sie noch nie so verzweifelt gesehen. Es war eine schlimme Zeit. Sie konnte es überhaupt nicht fassen, dass ich unser ganzes Geld verspielt hatte. Ich versprach ihr, dass ich damit endgültig aufhören würde und schickte ein Kündigungsschreiben an den CFD-Broker. Außerdem suchte ich mir einen Psychotherapeuten.
Nach den fünf Probe-Sitzungen, es war mittlerweile Mitte Mai 2016, brach ich die Sitzungen jedoch ab, weil ich mit dem Therapeuten nicht klar kam. Und weil ich mich zu der Zeit auch gefestigt sah, verfolgte ich das Thema Therapie nicht weiter. Meine Frau war zwar nicht happy damit, hakte aber auch nicht weiter nach.
Die Monate vergingen, ich blieb der Börse fern. Bis, ja bis zum September 2017. Das berühmte Hintertürchen war offen geblieben: das CFD-Broker-Kündigungsschreiben war irgendwann in 2016 als unzustellbar zurückgekommen, mein Konto also nie geschlossen worden. Zunächst war mir das auch egal, im September 2017 zahlte ich aber nochmals Geld auf das Konto ein und begann erneut zu spekulieren. Die ersten Wochen und Monate lief es ganz gut. Ich machte kontinuierlich kleine Gewinne. Dann kam mal ein überschaubarer Verlust, der aber nicht die zuvor erwirtschafteten Gewinne auffraß. Das war im Januar / Februar 2018. Und dann fing ich wieder an, die Einsätze zu erhöhen. Größere Hebel, Nachkaufen im Verlust. Wieder das gleiche fatale Muster. Hatte ich denn nichts aus meinen Fehlern gelernt? Das zwang mich jedenfalls dazu, im März wieder mal Geld nachzuschießen, insgesamt 3.500 EUR, die ich dieses Mal immerhin nicht von einem gemeinsamen Konto, sondern von meinem eigenen Ersparten entnahm. Ich schaffte es, dieses Geld trotz der Überwachung der Kontobewegungen durch meine Frau, abzuzweigen. Im April schoss ich weitere 1.000 EUR nach. In dieser Zeit schwang schon auch immer der Gedanke mit, warum ich das denn überhaupt mache und ich setzte mir ein letztes Ultimatum: entweder, ich schaffe es endlich und habe mich unter Kontrolle oder ich kehre der Börse für immer den Rücken.
Es war an einem Vormittag im Juni 2018, mein Konto war auf ca. 800 EUR gesunken (von den ganzen eingezahlten 5.000 EUR). Am Vormittag hatte ich bereits knapp 600 EUR durch Währungsspekulationen verloren. Ich setzte also auf fallende Ölpreise, machte den Rechner am Nachmittag aus und verbrachte Zeit mit der Familie. Ich dachte: entweder es klappt jetzt oder es klappt nicht.
In der Regel wird man von seinem Broker bei drohender Liquidation per Email benachrichtigt. Ich wartete minütlich auf diese Email, die ich in der Vergangenheit schon so oft erhalten hatte. Aber sie kam nicht. Ich wartete weiter. Nichts. Und dann, gegen 21:30 Uhr, machte ich meinen Rechner an und traute meinen Augen nicht: das Geschäft war voll aufgegangen: mein Kontostand betrug 3.900 EUR. Ich stellte die Positionen glatt und war total geflasht! Endlich hatte ich es geschafft. Ich hatte in der Tat mein Verhalten geändert und mal das gemacht, was mir in der Vergangenheit immer zum Verhängnis geworden war: ich hatte nicht im Verlust nachgekauft, sonder im Gewinn, und dadurch die Position, mit der ich ja scheinbar richtig lag, immer weiter vergrößert. Was für ein Gefühl. Neue Hoffnung keimte in mir auf. Ich war super gelaunt.
Was dann in den darauffolgenden Wochen folgte, war ein Auf und Ab: in der Spitze war das Konto auf 11.000 EUR. Dann aber kam, was kommen musste: ein Rückfall in alte Verhaltensmuster: ich wollte nicht glauben, dass eine Währung (die türkische Lira) so stark fallen könnte. Und damit zerstörte ich wieder mal einen Großteil der Gewinne. Das Konto fiel in der Folge auch unter 500 EUR und obwohl es mir gelungen war, in den Monaten zuvor auf weitere Kapitalaufstockungen zu verzichten, fing ich wieder an, Geld nachzuschießen. Also von wegen: mit den bisherigen Einzahlungen ist Schluss!! Ich kam dann auch wieder in brenzlige Situationen, die mir schlaflose Nächte bereiteten mit Hop oder Top. Es ging zwar schon ein paar Mal gut, aber ich merkte, dass ich die zuvor gesteckten Grenzen wieder einriss und bereit war, wenn nötig sehr viel Geld nachzuschießen (Kontrollverlust). Und darin liegt meines Erachtens die größte Gefahr.
Nun, warum schreibe ich das alles: war es mir in der ganzen Zeit seit September 2017 gelungen, sämtliche Transaktionen vor meiner Frau zu verbergen, so kam, was kommen musste: ich flog auf. Im Vorbeigehen entdeckte sie flüchtig im Browser die Seite des CFD-Brokers, die ich nicht mehr schnell genug schließen konnte und bohrte nach. Ich war aufgeflogen. Ich hatte ihr Vertrauen erneut zutiefst missbraucht.
Sie war wieder sehr schwer enttäuscht von mir. Sonst lief es bei uns in der Ehe eigentlich echt gut. Wir lachten gemeinsam, unternehmen immer mal wieder was gemeinsam und sind soweit glücklich. Wenn da die Sache mit der Börsenspekulation nicht wäre.
Also, was ist seit dem 27. Dezember 2018, dem Tag, an dem alles ans Licht kam, passiert:
• Meine Frau hat mich Gott sei Dank nicht aus dem Haus rausgeschmissen.
• Ich habe das Konto des CFD-Brokers nun endgültig gekündigt und auch eine schriftliche Bestätigung erhalten.
• Ich bin zu einer Suchtberatung gegangen und habe dort ein Erstgespräch gehabt.
• Ich bin zu einer Selbsthilfegruppe gegangen.
• Ich habe „Der Spieler“ von Dostojewski gelesen (um mich weiter mit der Thematik zu beschäftigen) und vielleicht auch als abschreckendes Beispiel.
• Ich schreibe diesen Artikel, um mich auch in einem Forum darüber auszutauschen. Ich hatte in den letzten Monaten ohnehin schon sehr viel Zeit in diesen Glücksspielforen verbracht und war mir schon da im Klaren, dass ich ein Problem mit der Börsenspekulation habe.
• Ich möchte diesen (starken) Dämon aus mir austreiben, weil er mir nicht guttut.
Was macht das Ganze problematisch, wo sehe ich Gefahren:
• Würde ich weiter spekulieren, wenn meine Frau nicht wäre: Ja.
• Ich hatte dummerweise in den letzten Wochen und Monaten ja auch den ein oder anderen richtigen Trade (zum ersten Mal in den ganzen 19 Jahren), sodass ich mich natürlich frage, ob ich es nicht vielleicht doch geschafft habe und endlich dauerhaft an der Börse erfolgreich sein kann. Dagegen spricht natürlich wieder mein Verhalten gegen Ende des Jahres.
Ich weiß, dass ich in den nächsten Monaten sicher keine Geschäfte eingehen werde. Dazu sitzt der Schock zu tief und die Angst, meine Familie zu verlieren / Frau erneut zu enttäuschen, ist zu groß. Ich weiß aber nicht, ob ich nicht in einem oder ein paar Jahren doch nochmal dazu greife, weil der Suchtteufel in einem drin bleibt und nur auf schwache Momente wartet. Und genau dabei hoffe ich durch Therapie, SHG und vielleicht auch durch den Austausch hier in diesem Forum auf Unterstützung.
Entschuldigt bitte den langen Text. Bei denen, die bis hierher durchgehalten haben, möchte ich mich schon mal bedanken.
Ich freue mich auf einen regen Austausch und vielleicht auch den ein oder anderen Tipp, was ich noch tun kann.
Genießt das Wochenende.