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Ich habe die Wahl

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Offline andreasg

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Ich habe die Wahl
« am: 25 September 2017, 11:49:37 »
Ja, ich bin Deinem Aufruf wählen zu gehen gefolgt, Ilona, nur meine Gedanken möchte ich gerne dazu hier einbringen, wenn es möglich ist:

Im Wahlbüro angekommen, habe ich mich gefreit zwei Wahlhelfer vom Team der letzten Komunalwahl anzutreffen, die hier ihren Dienst versahen. Beide Menschen mittleren Alters mit Migrationshintergrund. Ich teilte beiden mit, daß ich bei der Landtagswahl am  15. Oktober wieder im Team dabei bin. Ein freudiges Lächeln lag im Raum.
Nachmittags war ich in meiner Esssuchtgruppe, das allerwichtigste Ergebnis hatte meine Ex-Frau mir schon am Telefon mitgeteilt: Hannover96 vs. 1. FC. Köln 0:0.. schiedlich friedlich Unentschieden.

Daheim angekommen schaltete ich die Nachrichten an, um danach mein Abendessen zu genießen. Ich saß vor dem Monitor und starrte diesen fassungslos an, mein Blick wurde statisch und ich konnte nicht abschalten. So ging das Wetter an mir vorrüber und die Berliner Runde begann und nahm Fahrt auf. Ich nahm die Statements in mir auf, eingedenk meines friedlichen Esssuchtmeetings fragte ich mich irgendwann, wann die miteinander handgreiflich werden. Mich packten die minderen Gelüste, doch hörte ich gut zu. Irgendwie kam dann doch Ruhe auf dem Bildschirm auf und ich genoß mein Abendbrot bei einem Sportvideo.
Dann kamen meine Gefühle auf, meine Suchtgeschichte stand vor mir. Die Zeit, in der im Fußballfanblock die Migranten mit Faustschlägen vertrieben wurden, und damit ich auch in meinem Gewissen, die Zeit in der Firma, bei meinem alten Arbeitgeber, der seine populistische Meinung nicht bremsen konnte und so roch, wie ein Bremsstreifen in der Unterhose.
Alles das sind für mich Begebenheiten, über die ich lächelnd hinweg gesehen habe. Diese Vorstellung, ich könnte einmal mit meiner linken Faust auf den Tisch hauen, die Angst vor dem Verlust des Arbeitplatzes, und damit den Verlust meines Selbstwertgefühls. Das Klammern an Dingen, die mich erniedrigen, der Unterwerfung gleichsetzten. Als der Betrieb in Insolvenz ging, sah mich mein Portugisischer Kollege mit tiefschwarzen Augen durchdringend an, und meinte hinsichtlich des Firmenpatriarchen: "Dieser alte Nazi". Das ist auch ein Bild, das mir unvergessen ist.

Gestern Abend habe ich die Angst gespürt, wieder Spielen gehen zu können, weil ich die Situation nicht mehr kontrollieren konnte, weil das Gestern mit der Angst vor Morgen zusammenprallte, und eine Erruption forderte. Ich habe hemmungslos geweint, ich weiß nicht wie lange, jedenfalls so lange, bis ich ein Osterlied auf den Lippen hatte (EG 115). Ich saß immer noch versteinert am Rechner und murmelte die Melodie leise vor mir her. 

Heute Morgen - rief mich meine Ex - an zu eben dem Thema der Wahl. Wir haben lange miteinander gesprochen, auch sie hat ihre Geschichte mit dem Ewiggestrigen. Sie hat mir vor allem fest ans Herz gelegt, den Dienst al Wahlhelfer wahrzunehmen, weil ich ihr sagte, daß meine Emotionen es nicht aushalten können. Sie verwies mich darauf, daß ich Hilfe hätte, und das habe ich auch:
- mich hier einbringen zu können;
- ein Seelsorgerisches Gespräch mit meinem Pastor;
- in meinen beiden Selbsthilfegruppen, die mich immer Willkommen heißen in liebevoller Annahme;
- im Arbeitslosenkreis, der Landesarmutskonferenz, im Sozialcafé;
- im Genossenschaftlichen Nachbarschaftstreff;

wo ich überall Freunde habe und Menschen mit denen ich Erfahrung, Kraft und Hoffnung teilen kann.
Ich bin quasi auf dem Weg zum Orthopäden, ich werde mich nicht verbiegen lassen, sonder aufrecht gehen, auch wenn ich von der Stadtbahnhaltestelle aus zwischen Casino und ehemalieger Lieblingsspielhalle vorbeigehe. Die Blickrichtung geht in Richtung Bahnhofsmission, eben zu Ankommenden, die einfach und freundlich Willkommen geheißen werden. :)

Danke für das Teilen
schöne 24 Stunden
Andreas
Demut ist die anhaltende Ruhe im Herzen

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Offline Ilona

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    • Fachverband Glücksspielsucht e.V.
Re: Ich habe die Wahl
« Antwort #1 am: 25 September 2017, 16:52:55 »
Lieber Andreas,

deine Worte haben mich bewegt. Du lässt uns teilhaben an den Ereignissen aus deinem vergangenen Berufsleben. Sowas habe ich zum Glück nicht erlebt. Rassismus findet im Alltag statt und wir müssen jetzt alle wachsam sein und die demokratischen Werte hochhalten. Am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft, beim Fußball und überall, wo wir sind. Lass das aber bitte nicht so nah an dich heran, dass du dir schadest. Das wäre schlimm. Die große Mehrheit in Deutschland hat anders gewählt!

Alles Gute und ganz liebe Grüße

Ilona

 

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